Über Nacht ist ein ganzer Wald gewachsen
Daniela Huber/Yvonne Jakob/Julia Nuss
Dauer: 10. September bis 16. Oktober 2011
Mit freundlicher Unterstützung des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst sowie der Kulturstiftung der Städtischen Sparkasse Offenbach am Main.
"Die Natur braucht Ungleichgewichte, damit Neues entstehen kann; wie unsere Gesellschaft. Nur funktionierende Ungleichgewichte
können nachhaltige Entwicklungen ermöglichen."
Die Natur, das ist das Flüchtige, Improvisierte, Lebendige. Sie ist nicht linear, komplex, auf wechselseitigen
Austausch angelegt, und erscheint uns daher schwer zu greifen und undurchdringlich. Doch selbst was organisch
gewachsen ist, folgt bestimmten Regeln, selbst wenn jene oftmals unserer Alltagserfahrung zu widersprechen scheinen.
Diese erforscht Julia Nuss in ihren Installationen, Drucken und Gemälden. Sie schenkt Details ebenso viel
Aufmerksamkeit wie dem großen Zusammenhang, beides wird zu einer Einheit, die erhellen und verstören kann.
"Ich beschäftige mich momentan mit Systemen, Strukturen."
Der Wunsch, hinter diese sehen zu wollen, sie im Dasein zu verorten und zu verstehen, prägt Julia Nuss' Arbeiten
inhaltlich und formal. In Schichten liegen die verschiedenen Strukturen übereinander. Spinnenpapier, Lack, Lupen.
Raster, gefaltete geometrische Körper, die Licht und Schatten neu verteilen, die Schutz und Unterschlupf sein
können, die verstecken, oder Erkenntnis offenlegen. Mal erkennt man Menschen, Landschaften, Bäume, mal verliert
man sich völlig in den abstrakten Formen. Julia Nuss spielt mit dem Bewusstsein, dass Menschen Strukturen
unterschiedlich wahrnehmen. Was für den einen Ordnung bedeutet, nimmt ein anderer als Einschränkung wahr.
Ein schwer zu durchdringendes Geflecht aus Erinnerungen, gemachten Erfahrungen, persönlichen Ãœberzeugungen -
der Wald, der hier gewachsen ist, kann auch im Weg stehen, kann verklären und verwirren.
"Manchmal ist es nicht mehr als eine kleine Lichtspiegelei. Doch diese reflektiert all jene Unwägbarkeiten,
welche in meinen Arbeiten zum Ausdruck kommen und die schwindelig machen mit ihren Tiefen und Abgründen."
Abgründe locken den Betrachter oft und unausweichlich in Julia Nuss Gemälden und Drucken, wo der
räumliche Eindruck nicht nur durch Materialschichtung, sondern durch starke Perspektiven erzeugt wird.
Man fällt ganze Stockwerke hinunter, Ophelia ertrinkt in den dunklen Tiefen, eine schimmernde Oberfläche
trägt gerade nur die Blätter, die auf ihr schwimmen. Vergeblich sucht man nach einem Punkt, auf dem die
Augen sicher ruhen können.
"Wem oder Worauf kann man vertrauen?"
Strukturen zu suchen, zu finden, aufzuzeigen, kann dazu führen, dass am Ende die Ausnahme der Regel zur
bedeutsamsten Struktur wird. Man muss sich ihr überlassen können und einsehen, dass nicht alles planbar ist.
So sind wir alle auf der Suche nach Orientierung in einer Welt, die alles kontrollieren möchte und doch oft genug
dem totalen Kontrollverlust entgegen schlingert. Die aus dieser Hilflosigkeit folgende Ãœberwachung, um ermitteln
zu können wie ein Individuum in ein bestimmtes Muster passt, prägt unser heutiges Leben entscheidend.

"Warum hat
sich etwas genau so entwickelt und nicht anders?"
Gilt es letzten Endes den Zerfall von Zufälligkeiten als organisiertes Prinzip zu denken? Es lohnt, sich auf die
Fragen einzulassen, die Julia Nuss in ihren Arbeiten aufwirft; auch wenn man sich hierbei dann und wann von Gedanken
verabschieden muss, die man lieb gewonnen hatte.
Daniela Huber arbeitet mit dem Medium der Zeichnung. Von besonderer Bedeutung, sowohl inhaltlich als auch formal,
ist der Dialog zwischen Raum und Fläche, welchen Daniela Huber selbst als Vorgang des "Kippens" zwischen den Dimensionen beschreibt.
Sie beschäftigt sich in ihren Arbeiten mit Räumen aus ihrer Vergangenheit, die sie auf der Grundlage ihrer Erinnerung
wiedererstehen lässt. Hierbei entstehen durch den selektiven Prozess des Erinnerns und in Verbindung mit dem realen Raum
teilweise neue Räume, die nur in bestimmten Einzelheiten Ähnlichkeit mit dem Ort aus der Vergangenheit haben. Auch durch
die Abstraktion, die die Künstlerin durch das Weglassen von Fragmenten und somit durch die Reduktion auf Formen erreicht,
verlieren die Zeichnungen teilweise die Ähnlichkeit mit dem Vorbild.
Mit Wachsen und Wald verbindet Daniela Huber eine von einzelnen Linien ausgehende, immer dichter werdende Struktur.
Auf zweidimensionalen Handzeichnungen auf Papier entstehen aus Linien immer wieder neue Gebilde. Das Papierrelief hingegen
bewegt sich zwischen den Dimensionen. In einem kleinen Holzkasten überlagern sich mehrere Teile aus Papier, die ihren
Ursprung in den Handzeichnungen haben. Diese werden zerlegt und neu kombiniert, wodurch eine zusätzliche Räumlichkeit entsteht.
Durch die abgeschlossene Realität des Kastens wird der Eindruck von Bühnenaufbauten erweckt. Auch in den dreidimensionalen
Installationen überlagern sich Teilstücke verschiedener Materialien und Formen und bilden in ihrer Kombiniert neue Objekte.
Mit dem Ãœberlagern, und somit mit dem Verdecken und Unsichtbarmachen assoziiert die Künstlerin die Nacht.
Durch die Dreidimensionalität, das Hineinwachsen der Installation in den Ausstellungsraum, entsteht ferner eine Verbindung
zwischen dem imaginierten Raum der Zeichnung und dem realen Raum der Umgebung. Dies wird noch verdeutlicht durch die Fortführung
der Werke durch Zeichnungen, die direkt auf die Wand aufgetragen werden.
Durch das Weglassen von Linien in den Handzeichnungen und das Schwärzen von Nylonfäden in den Installationen entstehen "Leerstellen",
welche die Funktion haben, durch die Imagination des Betrachters gefüllt zu werden. Im Zustand der Dämmerung zwischen Tag und Nacht,
deren Zwielicht Manches im Unklaren lässt, ist der Wald noch nicht vollständig gewachsen oder zumindest teilweise der menschlichen
Wahrnehmung entzogen. Der Betrachter wird eingeladen, Teil dieses Wachstumsprozesses zu sein, indem er die Leerstellen mit seinen
eigenen Assoziationen und Vorstellungen füllt.
Yvonne Jakobs Aquarelle sind in gedeckten Farben, meist in Grün- Gelb- und Brauntönen gehalten. Lediglich im Werk "Geranie"
verwendet sie auch ein intensiveres Rot. Ihre Arbeiten sind gegenständlich, manchmal bedient sie sich aber auch eines Mittels
zur Abstraktion. Im Gegensatz zu Daniela Huber handelt es sich hierbei um eine Verfremdung durch Schaffung einer Distanz
zwischen den teilweise sehr persönlichen Bildern und der Realität. Es handelt sich dabei um die Distanz zwischen dem Vorbild
und dem Bild, gleichzeitig aber auch zwischen dem Abgebildeten und dem Betrachter/der Realität. Um diese Distanz zu schaffen
überzieht sie die Aquarelle mit einer schwarzen Farbschicht, die sie selbst „eine Schicht schwarzer Dunkelheit" nennt. Die
Themen "Wald" und "Nacht" sind auch in ihren Aquarellen von zentraler Bedeutung. Im Unterschied zu Daniela Huber kommt dies
aber wesentlich stärker auf einer intuitiven und inhaltlichen Ebene zum Tragen, weniger auf einer formalen. Insbesondere die
Nacht assoziiert sie mit dem Düsteren, Unbewussten, oder auch mit dem Tod. Oftmals haben ihre Arbeiten Tiere zum Motiv,
die Nachts unterwegs sind. Dies wird besonders durch die gedeckten Farben, sowie die partielle schwarze Ãœbermalung verdeutlicht.
Ein zentrales Thema ist auch in Yvonne Jakobs Aquarellen die Erinnerung. Ihre Sichtweise ist jedoch nicht so distanziert,
wie bei Daniela Huber, die sich an Räume erinnert, sondern von sehr persönlicher Natur. Yvonne Jakobs Aquarelle eröffnen
den Weg in eine Welt, die scheinbar fernab unserer Realität liegt, aber dennoch Ähnlichkeit mit ihr hat. Auch hier wird
der Betrachter direkt angesprochen. Er wird eingeladen, den Weg in den grünen, dunklen Wald zu betreten. Aber was verbirgt
sich hinter der nächsten Wegbiegung? Die Neugier wird ihn treiben, dieses Geheimnis zu lüften, auch wenn die Angst und die
Aufregung ihm einen kalten Schauer über den Rücken laufen lassen.
Auch in dem Schwarz-Weiß-Film von Yvonne Jakob ist diese Gefühlsmischung präsent. Zu sehen ist eine Schaukel, die vor und
zurück schwingt. Wichtig ist hier zum Einen die unendliche, sich wiederholende Pendelbewegung sowie das Motiv der Schaukel,
das uns allen aus unserer Kindheit vertraut ist. Wieder spielt die Erinnerung also eine besondere Rolle. Sie wird mit einer
unheimlichen Atmosphäre verbunden, die ein bisschen an die alten Hitchcock-Filme erinnern. Der Betrachter wird angeregt, Teil
dieser schwarz-weißen Welt zu werden und zu überlegen, was wohl passiert sein mag. Es mag ihm ein bisschen wie beim Filmgenuss
einer der alten Klassiker ergehen: Wird die Neugier siegen oder der Drang, dem Schauder zu entkommen?